GAIKOKUJIN NO EKI (VORTEILE EINES AUSLÄNDERS)



Man kann es drehen und wenden wie man will: Ein Ausländer wird in Japan, so man ihm sein Ausländertum denn ansieht, selten für voll genommen werden (umgedreht wird einem Ausländer, der japanisch aussieht, auch nichts geschenkt). Das Verhältnis der Japaner zu Ausländern (Gaijin) ist aber von starker Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite werden Europäer und Amerikaner stark bewundert, hat Japan doch in der Meiji-Zeit Vieles aus dem Ausland gelernt und übernommen, das heute noch nachwirkt: Als Deutscher gerät man immer wieder in Bedrängnis, wenn man den Text von "Am Brunnen vor dem Tore" nicht mitsingen kann, oder wenn alte Japaner einem augenzwinkernd und ehrlich lächelnd ein "Heil Hitler!" zuflüstern. Darüber, von einem Arzt eine perfekte Krankheitsbeschreibung auf Deutsch zu erhalten, wundere ich mich ebensowenig wie über die preussischen Schuluniformen, die die Schüler hier ab der Mittelschule tragen. Außerdem wird ein Deutscher - zumindest insgeheim - wie ein direkter Nachfahre Nietzsches, Goethes oder Bachs behandelt, wird also als potentieller Philosoph oder Künstler angesehen. Die Folge ist, daß jede Äußerung als gewichtige Absonderung eines genialen Hirns verstanden wird, über die man am besten erst einmal eine Weile nachdenkt. Noch enthusiastischer ist die dem Westen gegenüber geradezu blind aufgeschlossene Jugend. Betritt man als Gaijin (vor allem als grosser Gaijin) die Tanzfläche einer Tokyoter Disco, so ist man innerhalb von Minuten von Vertretern des anderen Geschlechts umringt, die ALLES, was man sagt oder tut, bedingungslos einfach nur toll finden! Das ist die eine, angenehme Seite der Medaille.

Die andere Seite ist schwieriger zu beschreiben. Es gibt in der japanischen Philosophie die sogenannte Nihonjinron -These, die die Einzigartigkeit des japanischen Volkes postuliert. Vereinfachend gesagt sind demzufolge die Japaner SO ein besonderes, anderes (und natürlich herausragendes) Volk, daß es anderen Kulturen gar nicht möglich sein KANN, die Japaner richtig zu verstehen.
Das stimmt zwar. Japan ist so voll von unüberbrückbaren Gegensätzen, daß jeder Erklärungsansatz zum Scheitern verurteilt ist. Aber: Meines Erachtens können auch Japaner dieses Land nicht verstehen. Sie versuchen es auch gar nicht. Darum können sie so gut damit leben!
Die Nihonjinron -These, wenn auch nicht jedem Japaner präsent und von einigen bestritten, vermag oft die Alltagsphänomene zu erklären, denen man als Ausländer hier begegnet:

Die japanische Aussprache ist vor allem für Deutsche eine der leichtesten Übungen. Es lauern kaum schwierige Zungenbrecher oder merkwürdige Vokale auf einen. Dennoch sind Japaner, wenn man sie unvermittelt auf der Straße anspricht, oft nicht in der Lage einen Gaijin zu verstehen. Selbst japanische Muttersprachler, die z. B. wegen eines deutschen Vaters nicht japanisch aussehen, werden nicht verstanden. Meine einfache Frage nach dem Weg zum Bahnhof ("Ekiwa doko des da?" - klingt genauso, wie es sich liest), wird entweder mit sofortiger Flucht quittiert oder erst nach dreimaligem Wiederholen beantwortet ("Ahh, EKI!").
Man kann einem so bösartig überrumpelten Japaner häufig die Gedankengänge im Gesicht ablesen: "Oh Gott, ein Ausländer, er kommt genau auf mich zu!" - dann kommt auch schon die Frage: "Ekiwa doko des ka?" - wenn links die Plakatwand und rechts die Straße ist, ist eine Flucht unmöglich. Schweißausbruch.
Da kommt die Frage auch schon zum zweiten Mal. "Du meine Güte, was will der Kerl?", denkt es im Japaner, "Englisch war das jedenfalls nicht, dabei sprechen doch ALLE Ausländer IMMER Englisch, weil es IMMER Amerikaner sind. Also, kein Englisch. Verwirrung. Japanisch? Niemals! Warum? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ausländer können kein Japanisch, weil es so eine schwierige Sprache ist. Das kann man ja überall nachlesen". Was stimmt. Japanische Zeitungskorrespondenten beschreiben immer wieder, wie anders doch fremde Länder und fremde Sitten sind. Den Lesern läuft bei solchen Schilderungen wahrscheinlich ein wohliger Schauer über den Rücken, bis sie dann in der Realität plötzlich mit einem echten Ausländer konfrontiert sind.
Und dann nach der dritten Frage, endlich die Antwort, auf Englisch: "Sorry... I don't speak French". Leider kein Witz.

Haben Japaner, denen EIN wohliger Schauer alleine nicht genug ist, mal einen Gaijin zum Essen eingeladen, kommt es fast unweigerlich zu einer der grausamsten Ausländermißhandlungen, die einem in Japan passieren kann: Das Lob über den gekonnten Umgang mit den Eßstäbchen. Selbst Japaner, die wissen, dass man schon seit über einem Jahr im Land ist, dass man die Sprache beherrscht und dass man mit den japanischen Gepflogenheiten sehr wohl bekannt ist, fragen zu Beginn des Sushi-Essens, den wohligen Schauer sozusagen schon im Anschlag, ob man nicht vielleicht doch lieber Messer und Gabel...? Nein? Ohhhhhh, toll! Ein Leuchten geht über das Gesicht, in dem der Gaijin in diesem Augenblick am liebsten einen rechten Haken landen würde. Wenn dann noch die korrekte Handhabung der Stäbchen besonders gelobt wird (der Japaner sagt sich in dem Moment wahrscheinlich innerlich: "Sind ja doch nicht ganz so wild, diese Ausländer."), bleibt oft nur die Gegenfrage, wie es denn mit den Tücken von Messer und Gabel aussieht. Ich muss allerdings gestehen, dass mir mittlerweile nicht mal mehr zynische Repliken einfallen.

Soweit also die Ambivalenz der Japaner, die dem Gaijin hier jeden Tag ins Gesicht bläst. Zuzugestehen ist den Japanern allerdings, daß die positiven Seiten bei weitem überwiegen. Man braucht sich nur einmal mit fragendem Gesicht vor einen Tokyoter U-Bahnplan zu stellen, der komplett mit chinesischen Schriftzeichen übersät ist. Es dauert garantiert nicht länger als drei Minuten, bis ein des Englischen mächtiger Japaner fragt: "May I help you?".
Genaugenommen bietet einem das Gaijintum hier ungeahnte Möglichkeiten. Man kann Wege gehen und Dinge erreichen, die Japanern im eigenen Land verwehrt sind.

Ein ehemaliger Teilnehmer meines Programms berät heute deutsche Unternehmen beim Import ihrer Produkte nach Japan. Er beschrieb eindrucksvoll die Zauberkräfte, über die ein Gaijin verfügt: Ein deutsches Unternehmen wollte Modems auf dem japanischen Markt anbieten und bediente sich dazu der Dienste des ehemaligen Stipendiaten, dessen Firma mehrere japanische Mitarbeiter hat.
Zunächst wird also ein japanischer Vertreter zum MITI, dem Wirtschaftsministerium, losgeschickt, die vorgeschriebenen Akten für die Importzulassung unter dem Arm (oder besser: im Handwagen). Das MITI hat unter dem starken Druck der Amerikaner zugesichert, "... Zulassungen innerhalb von acht Wochen nach Annahme der Antragsakten zu erteilen". Den Satz muss man sich auf der japanischen Zunge zergehen lassen: NACH ANNAHME! Weiter muss man dazu wissen, dass das MITI für japanische Hochschulabsolventen der Himmel ist. Höher als ein MITI-Beamter steht in Japan allenfalls noch der Kaiser. Nun kommt also der kleine Angestellte Tanaka-san ins MITI und wird dort - nach entsprechender Wartezeit - zum zuständigen Sachbearbeiter vorgelassen. Unter vielen Verbeugungen und Entschuldigungen überreicht er den geforderten Aktenstapel. Der Ministeriale schlägt den Deckel kurz auf, wirft einen Blick auf die technische Zeichnung im DIN A3-Format und gibt den Stapel dann zurück. "Alle Zeichnungen müssen im DIN A4-Format sein. In dieser Form können wir den Antrag nicht annehmen" (kein Witz!). Der kleine Angestellte entschuldigt sich vielmals und geht rückwärts unter vielen Verbeugungen wieder hinaus. Wenn er das nächste Mal kommt, wird er gebeten, doch bitte (auch kein Witz!!!) die chemische Zusammensetzung des Klebstoffes, mit dem das Modemtypenschild am Modem befestigt ist, zu benennen. Wieder Entschuldigungen, etc.
So vergehen vier Monate, die Akten sind immer noch nicht angenommen. Die Geduld des deutschen Modemherstellers und das Vertrauen in die Fähigkeiten seines deutschen Beraters vor Ort lassen nun langsam nach, zumal wundersamerweise die japanische Konkurrenz seit kurzem ebenfalls über die neue, bis dahin geheime Technik verfügt. In dieser Lage braucht man keinen Superman, aber so etwas ähnliches: einen Gaijin! Der Deutsche macht sich also ins MITI auf und kommt dort in der typisch rüpelhaften Manier des Westlers sofort zum Punkt. "Schon wieder so ein ungehobelter Klotz", denkt der Beamte, der seinen Gegenüber damit natürlich gnadenlos unterschätzt. Dieser deutet dann im Verlaufe des Gesprächs vorsichtig an, daß sein Arbeitgeber ihn bei weiterem Misserfolg möglicherweise... Er braucht gar nicht weiter zu reden. Eine leicht sensende Handbewegung in Halshöhe ruft beim Ministerialen sofort Angst und Schrecken hervor. Deswegen spricht dieser - nun mit schreckgeweiteten Augen - das furchtbare Wort auch gar nicht aus, sondern denkt es nur: kubi , zu Deutsch "Hals" (das zweite Wort ist so grausam, dass es nicht gedacht, geschweige denn ausgesprochen wird: abschneiden). Alle Alarmglocken schrillen. Eine Entlassung des Deutschen, das hat er nun wirklich nicht gewollt, welch eine Schande, und alles am Ende noch seinetwegen! Er verspricht, sofort seinen Chef anzurufen, und innerhalb von drei Tagen ist der Modemimport genehmigt.

Dieser Fall ist genauso wenig erfunden, wie der folgende, bei dem ich selber die Probe auf's Exempel gemacht habe. Mit einem Dutzend Kolleginnen und Kollegen von Arthur Andersen wollte ich nach einem anstrengenden Fussballspiel in einer Izakaya , einer japanischen Kneipe, meinen Durst löschen. Die Tür stand zwar schon offen, man konnte sehen, dass die Tische alle vorbereitet waren. Aber, so wurde uns bedeutet, aufgemacht wird erst um vier, wir sollten also noch etwa 20 Minuten draussen warten. Japaner, denen einmal von einer Autorität (hier: der Oberkellner) etwas gesagt wird, fragen nicht nach Gründen, sondern fügen sich ergeben in ihr Schicksal. Ich aber sah meine grosse Gaijinstunde gekommen. Meiner Sache sicher meinte ich noch zu meinen entsetzten Kollegen: "Das wollen wir ja nochmal sehen!" und betrat die Kneipe erneut.
Das Duell mit dem Oberkellner eröffnete ich mit der - neben meinem Gaijingesicht - schärfsten Waffe eines Ausländers, der englischen Sprache. Wenn von vielen Japanern auch schlecht gesprochen, den Sinn einfacher Sätze verstehen sie allemal. "Can't we come in here?", fragte ich in etwas beleidigtem Ton. Schweißausbruch bei meinem Gegenüber: "I ... am ... sorry. We ... not yet ... ready", stammelte er. Ich zeigte auf die fertigen Tische und tat, was ein Japaner niemals wagen würde: Den Gesprächspartner auf die Falschheit des Gesagten direkt hinzuweisen. Natürlich nicht ohne Höflichkeit, denn es darf nicht zum Gesichtsverlust kommen, sagte ich: "But we could sit over there, it will be no problem for us". Noch ein breites Lächeln hinterhergeschoben und der Kellner war erledigt. Er rang mir noch eine Gesichtswahrungsfrist von zwei Minuten ab, dann konnten wir rein. Von meinen Kollegen wurde ich begeistert gefeiert, obwohl ein solches Verhalten keinem von ihnen jemals selbst in den Sinn kommen würde.

© Mortimer v. Plettenberg



< < < LETZTER | INHALT | NÄCHSTER > > >