Die andere Seite ist schwieriger zu beschreiben. Es gibt in der japanischen
Philosophie die sogenannte
Nihonjinron
-These, die die Einzigartigkeit des japanischen Volkes postuliert.
Vereinfachend gesagt sind demzufolge die Japaner SO ein besonderes, anderes
(und natürlich herausragendes) Volk, daß es anderen Kulturen gar nicht möglich
sein KANN, die Japaner richtig zu verstehen.
Das stimmt zwar. Japan ist so voll von unüberbrückbaren
Gegensätzen, daß jeder Erklärungsansatz zum Scheitern verurteilt ist. Aber:
Meines Erachtens können auch Japaner dieses Land nicht verstehen. Sie versuchen
es auch gar nicht. Darum können sie so gut damit leben!
Die
Nihonjinron
-These, wenn auch nicht jedem Japaner präsent und von einigen bestritten,
vermag oft die
Alltagsphänomene zu erklären, denen man als Ausländer hier begegnet:
Die japanische Aussprache ist vor allem für Deutsche eine der leichtesten
Übungen. Es lauern kaum schwierige Zungenbrecher oder merkwürdige Vokale auf
einen. Dennoch sind Japaner, wenn man sie unvermittelt auf der Straße
anspricht, oft nicht in der Lage einen Gaijin zu verstehen. Selbst japanische
Muttersprachler, die z. B. wegen eines deutschen Vaters nicht japanisch
aussehen, werden nicht verstanden. Meine einfache Frage nach dem Weg zum
Bahnhof ("Ekiwa doko des da?" - klingt genauso, wie es sich liest), wird
entweder mit sofortiger Flucht quittiert oder erst nach dreimaligem Wiederholen
beantwortet ("Ahh, EKI!").
Man kann einem so bösartig überrumpelten Japaner häufig die Gedankengänge im
Gesicht ablesen: "Oh Gott, ein Ausländer, er kommt genau auf mich zu!" - dann
kommt auch schon die Frage: "Ekiwa doko des ka?" - wenn links die Plakatwand
und rechts die Straße ist, ist eine Flucht unmöglich. Schweißausbruch.
Da kommt die Frage auch schon zum zweiten Mal. "Du meine Güte,
was will der Kerl?", denkt es im Japaner, "Englisch war das jedenfalls nicht,
dabei sprechen doch ALLE Ausländer IMMER Englisch, weil es IMMER Amerikaner
sind. Also, kein Englisch. Verwirrung. Japanisch? Niemals! Warum? Weil nicht
sein kann,
was nicht sein darf. Ausländer können kein Japanisch, weil es so eine
schwierige Sprache ist. Das kann man ja
überall nachlesen". Was stimmt. Japanische Zeitungskorrespondenten beschreiben
immer wieder, wie anders doch fremde Länder und fremde
Sitten sind. Den Lesern läuft bei solchen Schilderungen wahrscheinlich ein
wohliger Schauer über den Rücken, bis sie dann in der Realität plötzlich mit
einem echten Ausländer konfrontiert sind.
Und dann nach der dritten Frage, endlich die Antwort, auf
Englisch: "Sorry... I don't speak French". Leider kein Witz.
Haben Japaner, denen EIN wohliger Schauer alleine nicht genug ist, mal einen Gaijin zum Essen eingeladen, kommt es fast unweigerlich zu einer der grausamsten Ausländermißhandlungen, die einem in Japan passieren kann: Das Lob über den gekonnten Umgang mit den Eßstäbchen. Selbst Japaner, die wissen, dass man schon seit über einem Jahr im Land ist, dass man die Sprache beherrscht und dass man mit den japanischen Gepflogenheiten sehr wohl bekannt ist, fragen zu Beginn des Sushi-Essens, den wohligen Schauer sozusagen schon im Anschlag, ob man nicht vielleicht doch lieber Messer und Gabel...? Nein? Ohhhhhh, toll! Ein Leuchten geht über das Gesicht, in dem der Gaijin in diesem Augenblick am liebsten einen rechten Haken landen würde. Wenn dann noch die korrekte Handhabung der Stäbchen besonders gelobt wird (der Japaner sagt sich in dem Moment wahrscheinlich innerlich: "Sind ja doch nicht ganz so wild, diese Ausländer."), bleibt oft nur die Gegenfrage, wie es denn mit den Tücken von Messer und Gabel aussieht. Ich muss allerdings gestehen, dass mir mittlerweile nicht mal mehr zynische Repliken einfallen.
Soweit also die Ambivalenz der Japaner, die dem Gaijin hier jeden Tag ins
Gesicht bläst. Zuzugestehen ist den Japanern allerdings, daß die positiven
Seiten bei weitem
überwiegen. Man braucht sich nur einmal mit fragendem Gesicht vor einen
Tokyoter U-Bahnplan zu stellen, der komplett mit chinesischen Schriftzeichen
übersät ist. Es dauert garantiert nicht länger als drei Minuten, bis ein des
Englischen mächtiger Japaner fragt: "May I help you?".
Genaugenommen bietet einem das Gaijintum hier ungeahnte Möglichkeiten. Man kann
Wege gehen
und Dinge erreichen, die Japanern
im eigenen Land verwehrt sind.
Ein ehemaliger Teilnehmer meines Programms berät heute deutsche Unternehmen
beim Import ihrer Produkte nach Japan. Er beschrieb eindrucksvoll die
Zauberkräfte, über die ein Gaijin verfügt: Ein deutsches Unternehmen wollte
Modems auf dem japanischen Markt anbieten und bediente sich dazu der Dienste
des ehemaligen Stipendiaten, dessen Firma mehrere japanische Mitarbeiter hat.
Zunächst wird also ein
japanischer Vertreter zum MITI, dem Wirtschaftsministerium, losgeschickt, die
vorgeschriebenen Akten für die Importzulassung unter dem Arm (oder besser: im
Handwagen). Das MITI hat unter dem starken Druck der
Amerikaner zugesichert, "... Zulassungen innerhalb von acht Wochen nach Annahme
der Antragsakten zu erteilen". Den Satz muss man sich auf der japanischen Zunge
zergehen lassen: NACH ANNAHME!
Weiter muss man dazu wissen, dass das MITI für japanische
Hochschulabsolventen der Himmel ist. Höher als ein MITI-Beamter steht in Japan
allenfalls noch der Kaiser. Nun kommt also der kleine Angestellte Tanaka-san
ins MITI und wird dort - nach entsprechender Wartezeit - zum zuständigen
Sachbearbeiter vorgelassen. Unter vielen Verbeugungen und Entschuldigungen
überreicht er den geforderten Aktenstapel. Der Ministeriale schlägt den
Deckel kurz auf, wirft einen Blick auf die technische Zeichnung im DIN
A3-Format und gibt den Stapel dann zurück. "Alle Zeichnungen müssen im DIN
A4-Format sein. In dieser Form können wir den Antrag nicht annehmen" (kein
Witz!). Der kleine Angestellte entschuldigt sich vielmals und geht rückwärts
unter vielen Verbeugungen wieder hinaus. Wenn er das nächste Mal kommt, wird er
gebeten, doch bitte (auch kein Witz!!!) die chemische Zusammensetzung des
Klebstoffes, mit dem das Modemtypenschild am Modem befestigt ist, zu benennen.
Wieder Entschuldigungen, etc.
So vergehen vier Monate, die Akten sind immer
noch nicht angenommen. Die Geduld des deutschen Modemherstellers und das
Vertrauen in die Fähigkeiten seines deutschen Beraters vor Ort lassen nun
langsam
nach, zumal wundersamerweise die japanische Konkurrenz seit kurzem ebenfalls
über die neue, bis dahin geheime Technik verfügt. In dieser Lage braucht man
keinen Superman, aber so etwas ähnliches: einen Gaijin! Der Deutsche macht sich
also
ins MITI auf und kommt dort in der typisch rüpelhaften Manier des Westlers
sofort
zum Punkt. "Schon wieder so ein ungehobelter Klotz", denkt der Beamte, der
seinen Gegenüber damit natürlich gnadenlos unterschätzt. Dieser deutet dann
im Verlaufe des Gesprächs vorsichtig an, daß sein Arbeitgeber ihn bei weiterem
Misserfolg möglicherweise... Er braucht gar nicht weiter zu reden. Eine leicht
sensende Handbewegung in Halshöhe ruft beim Ministerialen sofort Angst und
Schrecken hervor. Deswegen spricht dieser - nun mit schreckgeweiteten
Augen - das furchtbare Wort auch gar nicht aus, sondern denkt es nur:
kubi
, zu Deutsch "Hals" (das zweite Wort ist so grausam, dass es nicht gedacht,
geschweige denn ausgesprochen wird: abschneiden).
Alle Alarmglocken schrillen. Eine Entlassung des Deutschen, das hat er nun
wirklich nicht gewollt, welch eine
Schande, und alles am Ende noch seinetwegen! Er verspricht, sofort seinen Chef
anzurufen, und innerhalb von drei Tagen ist der Modemimport genehmigt.
Dieser Fall ist genauso wenig erfunden, wie der folgende, bei dem ich selber
die Probe auf's Exempel gemacht habe. Mit einem Dutzend Kolleginnen und
Kollegen von Arthur
Andersen wollte ich nach einem anstrengenden Fussballspiel in einer
Izakaya
, einer japanischen Kneipe, meinen Durst löschen. Die Tür stand
zwar schon offen, man konnte sehen, dass die Tische alle vorbereitet waren.
Aber, so wurde uns bedeutet, aufgemacht wird erst um vier, wir sollten also
noch etwa 20 Minuten draussen warten. Japaner, denen einmal von einer
Autorität (hier: der Oberkellner) etwas gesagt wird, fragen nicht nach Gründen,
sondern fügen sich ergeben in ihr Schicksal. Ich aber sah meine grosse
Gaijinstunde gekommen. Meiner Sache sicher meinte ich noch zu meinen entsetzten
Kollegen: "Das wollen wir ja nochmal sehen!" und betrat die
Kneipe erneut.
Das Duell mit dem Oberkellner eröffnete ich mit der - neben meinem
Gaijingesicht - schärfsten Waffe eines Ausländers, der
englischen Sprache. Wenn von vielen Japanern auch schlecht gesprochen, den Sinn
einfacher Sätze verstehen sie allemal. "Can't we come in here?", fragte ich in
etwas beleidigtem Ton. Schweißausbruch bei meinem Gegenüber: "I ... am ...
sorry. We ... not yet ... ready", stammelte er. Ich zeigte auf die fertigen
Tische und
tat, was ein Japaner niemals wagen würde: Den Gesprächspartner auf die
Falschheit des Gesagten direkt hinzuweisen. Natürlich nicht ohne Höflichkeit,
denn es darf nicht zum Gesichtsverlust kommen, sagte ich: "But we could sit
over there, it will be no problem for us". Noch ein breites Lächeln
hinterhergeschoben und der Kellner war erledigt. Er rang mir noch eine
Gesichtswahrungsfrist von zwei Minuten ab, dann konnten wir rein. Von meinen
Kollegen wurde ich begeistert gefeiert, obwohl ein solches Verhalten keinem von
ihnen jemals selbst in den Sinn kommen würde.
© Mortimer v. Plettenberg