Kanji
ASSA NO OINORI (MORGENGEBET)



Letztes Wochenende hielt der Wirtschaftsgesandte der Deutschen Botschaft einen Vortrag über Europa im Allgemeinen und den Euro im Besonderen. Die Veranstaltung fand in Matsumoto statt, wohin die japanisch-deutsche Gesellschaft der Präfektur Nagano geladen hatte. Zu diesem Zweck wurde ein noch möglichst gut erhaltenes Exemplar eines Europäers benötigt, mithilfe dessen man "den Europäer an sich" etwas plastischer machen wollte. Eher per Zufall war die Wahl dabei auf mich gefallen, und ich freute mich sehr auf ein Wochenende auf dem Lande.

Damit mich der Gegensatz zwischen dem engen, lauten, unnahbaren Tokio und dem geruhsamen Landleben nicht zu krass treffen würde, hatte ich mich am Tag davor in der Stadt Nagano, bekannt durch die Olympischen Winterspiele 1998, einquartiert. Da ich schon in einigen Ryokans übernachtet hatte, vergleichbar den deutschen Pensionen (aber viel stilvoller), fiel meine Wahl diesmal auf ein Shukubo, eine Tempelherberge, in der Nähe des in Japan wegen seiner Offenheit gegenüber allen Religionen berühmten Zenkooji-Tempels. Nach einem stärkenden Soba-Abendessen (eine Art Spaghetti) traf ich am Abend im Shukubo ein. Da die Wandersaison in den japanischen Alpen erst im Sommer beginnt, war ich der einzige Gast und damit Objekt der ungeteilten Neugier der Besitzer - eine ganz andere Erfahrung als in Tokyo, wo das Höchste, was man einem Gast gewähren kann, ihn in Ruhe zu lassen ist. Mein Shukubo - ein kleiner Untertempel des Zenkooji - war seit mehreren Generationen im Besitz einer Mönchsfamilie (jawohl, buddhistische Mönche dürfen heiraten und Kinder kriegen). Einer der beiden Söhne des Familienoberhauptes hatte Buddhismus studiert, der andere war Professor für chemische Verfahrenstechnik an der University of Michigan. Als die Zeit kam, da sich der alte Ojiisan auf das Altenteil zurückziehen wollte, wurde der Tempel an die nächste Generation übergeben. An wen? Ist doch klar: An den Verfahrenstechnikprofessor, denn er war der Ältere!

Seine Ehefrau zeigte ihren Ärger über diese Entscheidung in einer für Japan frappierenden Offenheit: Auf meine Frage, ob die Umstellung für sie nicht schwierig gewesen sei, schwieg sie. Am späten Abend konnte ich mich nochmal von der Grenzenlosigkeit japanischer Gastfreundschaft überzeugen, als ich feststellte, dass eine im Koffer transportierte Flasche Weisswein geplatzt war: Sofort wurde mein Kofferinhalt samt Anzug einer eingehenden Reinigung und anschließenden Bügelung unterzogen.

So spät wie dadurch der Abend wurde, so früh musste ich am nächsten Morgen aufstehen. Um 5:00 Uhr wurde ich durch vornehmes Klopfen an der papiernen Shooji-Wand in meinem Tatamizimmer geweckt. Unten erwartete mich schon der Verfahrenstechnikprofessor - pardon - der Mönch im Prunkgewand. Langsam wanderten wir durch die nebeligen Gassen, rechts und links die alten japanischen Holzhäuser mit den typischen kleinen Gärten, alles in tiefem Schlaf.

Nachdem wir den inneren Tempelbezirk durch ein immens grosses Holztor betreten hatten, stellten wir uns in eine Reihe mit etwa einem Dutzend anderer Japaner, die mich mit unverhohlener Neugier musterten. Um Punkt sechs erklang aus dem Tempel zu meiner Linken der tiefe Ton einer riesigen Taiko-Trommel, die den Oberpriester rief. Zur Rechten wurde kurz darauf aus dem Klostergebäude mit einem hellen Glockenton geantwortet, der anzeigte, dass der Oberpriester soeben das Gebäude verlassen hatte und auf dem Weg zu uns war. Jetzt kam Bewegung in die Gruppe der Wartenden. Alle knieten sich entlang des Weges zum Tempel hin, auch mir wurde bedeutet, das zu tun. Aus den Augenwinkeln konnte ich eine Szene beobachten, die, hätten die Beteiligten nicht so merkwürdige Kleider getragen, sich so ähnlich auch in einer Kirche hätte abspielen können: Der Oberpriester, gewandet in einen prächtigen, goldbestickten Seidenkimono, wurde begleitet von einigen Gehilfen, die neben und hinter ihm herliefen und einen grossen roten Papierschirm über ihn hielten. In seiner Linken hielt er eine Kette - einem Rosenkranz nicht unähnlich - mit der er jeden von uns kurz auf dem gebeugten Kopf berührte. Das Ganze dauerte nur Augenblicke, dann war die Gruppe vorbei, und ich konnte in den Tempel gehen.

Die Haupthalle ist die drittgrößte Japans und - wie der Rest des Tempel - vollständig aus Holz. "Mein" Mönch hatte mir blitzschnell den besten Platz ganz vorne links reserviert, wo ich mich nun im halben Lotus auf den Boden setzte. Dann ging es auch schon los. Die Details der Zeremonie kann ich nicht mehr gut erinnern, aber mir fiel die frappierende Ähnlichkeit zu katholischen Messen auf. Die Mönche, zehn an der Zahl, traten ein und nahmen links und rechts Platz. Ähnlich Messdienern standen sie gelegentlich auf und gingen dem Oberpriester zur Hand. Dieser wiederum war der Einzige, der in das Allerheiligste des Tempels eintreten durfte, dessen Vorhang zu diesem Zweck hochgezogen wurde. Das eigentliche Allerheiligste - in diesem Fall eine Buddhatriade - bekommt man aber nicht zu sehen, weil es in einem Tresor steckt. Diesen darf niemand, nicht einmal der Oberpriester, jemals öffnen! Die Tatsache, dass es sich um eine Triade handelt, ist deswegen bekannt, weil eine Kopie existiert, die zumindest alle sieben Jahre einmal hervorgeholt wird.

Vor dem Allerheiligsten vollführte der Oberpriester einer Reihe ritueller Handlungen, deren Bedeutung sich mir nicht erschloss. Den eigentlichen "Kick" erhielt die Zeremonie aber durch den Gesang der Mönche. Der Gregorianik nicht ganz fremd, werden textlose Tonfolgen gesungen, die aber nicht so harmonisch wie gregorianische sind. Eine Passage ("ahh", bzw. "ehh") dauert etwa zwei Minuten. Das Ganze bekommt durch den frühen Morgen, den Duft der Räucherstäbchen und die prächtigen aber fremden Gewänder einen durch und durch archaischen Charakter, der mich ungemein fasziniert hat. Anschliessend werden zum sehr schnellen Schlag einer Trommel Sutren, in diesem Fall Teile der Lotus-Sutra, gesungen. Mein Japanisch reichte noch nicht aus, um den Text zu verstehen, aber es handelt sich dabei um Anweisungen, wie man zur Erleuchtung gelangt (z. B.: "Du-sollst-nicht-so-viel-Rind-fleisch-es-sen-nimm-je-den-Tag-ein-Bad" etc.) Am Ende bekommen die Gläubigen vom Hohepriester mit wenigen, ziemlich hektischen Bewegungen einen Segen, dann ist die Zeremonie vorbei.

Nachdem wir den Tempel verlassen hatten, erläuterte mir der Mönch noch einmal die Bedeutung der verschiedenen Handlungen und führte mich unter verschiedenen Erklärungen durch den Tempel und die umliegenden Strassen zurück zum Shukubo, wo schon ein reichhaltiges japanisches Frühstück wartete.

© Mortimer v. Plettenberg



< < < LETZTER | INHALT | NÄCHSTER > > >