Kanji
GYOJA (DER ASKET)



Da kurz nach meiner Ankunft ein Freund aus Bonn, Severin, zu Besuch kam, unternahm ich gleich zu Anfang einige Abstecher in die Tokioter Umgebung, und zwar nach Hakone und Kamakura. Insbesondere die Hakone-Fahrt (zum Fuji-san) war ein sehr beeindruckendes Erlebnis, wenn es auch mit einer großen Enttäuschung verbunden war. Severins Eltern hatten nämlich - vor 20 Jahren in Japan lebend - Freundschaft mit einem buddhistischen Einsiedlermönch geschlossen, der zurückgezogen in einem Tempel irgendwo in den Bergen von Hakone lebte und den wir besuchen wollten. In meiner Vorstellung traf man nach einem dreistündigen Fußmarsch an einer kleinen Hütte ein, die ein altes Männchen mit langem Bart öffnete, mißtrauisch guckte und uns dann wortkarg mit einem Schluck Wasser und einer Schale Reis begrüßte. Natürlich würde so ein Mönch, der allem Weltlichen entsagt hatte, auf dem blanken Erdboden schlafen und, so er nicht schliefe oder äße, die ganze Zeit meditieren.

Tatsächlich lag in den Bergen von Hakone ein wunderschöner Tempel. Der Fußmarsch belief sich allerdings auf lediglich zwanzig Minuten, die man über Treppen bergan zurücklegte. Vielleicht hätte mich der vor dem Eingang geparkte brandneue Range Rover mißtrauisch machen sollen, aber ich vermutete hier einen reichen Amerikaner, der bei dem edlen Sensei die Erleuchtung suchte.

Nachdem wir unter Anleitung unserer japanischen Begleiterin Yasuko die rituelle Reinigung vor dem 300 Jahre alten Tempel vollzogen hatten, kam der große Moment: wir bedienten ein riesiges Kettenrad, das wohl eine Art Klingelfunktion hatte. Tatsächlich, da öffnete der Mönch auch schon die Schiebetür, und er sah mit seinem traditionellen schwarz-weißen Mönchsgewand tatsächlich so aus, wie man sich einen Mönch vorstellt, nur der Bart fehlte. Er habe uns schon erwartet, sagte er. Unglaublich! Hatte er unser Kommen erspürt? - Hatte er natürlich nicht, denn Yasuko hatte unseren Besuch angekündigt - telefonisch! Das war die erste Enttäuschung: Ein Einsiedlermönch mit Telefon, wo gibt's denn sowas?

Na ja, der Mönch bat uns einzutreten, und wir waren geblendet: Der Tempel war voll mit Kunstschätzen: ein riesiger goldener Buddha saß da, ein zweiter direkt daneben, der sogenannte "Schwarze Buddha", der den Tokugawa-Shogunen gehört hatte und den die letzte Prinzessin eigenhändig hierhergebracht hatte. Unglaublich! Vor dem goldenen Buddha, der etwa 2,50 m groß war, lag ein prächtig besticktes Samtkissen, das augenscheinlich nur der Meister persönlich berühren durfte, denn weiter hinten war ein einfaches Stoffkissen, auf das der Sensei jetzt mit einer kaum merklichen Handbewegung deutete. Nacheinander knieten wir uns dort alle zum Gebet hin. Nachdem ich zwei Räucherstäbchen angezündet und zweimal den Gong geschlagen hatte, öffnete ich die Augen wieder und erschrak: Auf dem funkelnden Zeremonienkissen hatte es sich mittlerweile ein ekliger graubrauner Pudel bequem gemacht, der offensichtlich zum Tempel gehörte. Der Hund wich fortan nicht mehr von unserer Seite, auch nicht, als uns der Hausherr bat, an einem niedrigen Tisch niederzuknien. Meine Bemühungen, hier nach dem Vorbild des Meisters nicht nur den halben, sondern den vollen Lotussitz einzunehmen, hatten zur Folge, dass ich in den Beinen nach zwei Minuten leichte Schmerzen, nach drei Minuten starke, nach fünf kein Gefühl mehr hatte.

Zähne zusammenbeissen, dachte ich mir, denn auf dem Tisch hatte ich schon alle Zutaten erspäht, die es zu einer traditionellen japanischen Teezeremonie braucht: grünen, pulverisierten Tee, den speziellen Holzlöffel, den Teepinsel (mit dem umgerührt wird), die kleinen Zuckerbäckereien - alles Gegenstände, die ich schon von einer Übungsteezermonie am Bochumer Japonicum kannte. Leise raunte ich Severin zu: "Wow, das gibt 'ne echte Teezeremonie, das dauert mindestens eineinhalb Stunden". Und schnell versuchte ich mich wieder zu erinnern mit welcher Hand man welche Schale anfaßt und wieherum man sie dreimal drehen muß, bevor man in kleinen Schlucken unter großem Lob den Tee trinkt. Aber auch hier lag ich daneben. Der Mönch verließ den Raum, kam mit einer Thermoskanne wieder, goß jedem einen Tee auf, rührte zweimal um und schob uns die Schalen rüber. Dann trank er seinen Tee in einem Zug aus. So ein Rüpel, dachte ich, entschuldigte sein Gebaren aber sofort wieder mit dem Gedanken, daß dieser erleuchtete Geist, der uns da gegenübersaß, ja allem eitlen Tand und hohlen Zeremonien entsagt hatte. Der Sensei war einfach schon ein Stufe weiter als wir!

Gespannt blickte er nun auf meine nagelneue Minolta-Spiegelreflexkamera, zog die Augenbrauen hoch und fragte unsere Begleiterin etwas auf japanisch. Na klar, der hat in seinem Leben noch keine Kamera gesehen, dachte ich mir und ließ mit der rechten Hand den Autofokus ein paarmal lässig hin- und herfahren. Jetzt übersetzte Yasuko die Frage des Mönchs: "Was für eine Brennweite hat der Telezoom?" Ich war baff. Offensichtlich hatte der Mensch doch etwas Ahnung. Ich reichte ihm die Kamera, und er nickte anerkennend. Dann bedeutete er uns, kurz zu warten, verschwand in einem Zimmer und kam gleich darauf zurück, in der Hand eine Sofortbildkamera. Aha, die hat ihm wohl ein Tourist als milde Gabe hiergelassen. Sofort schoß er ein Foto von uns, dann wieder die Geste "Warten", er verschwand erneut und kam mit einer kleinen Olympus Sucherkamera zurück. Unser erstauntes "Oh!" quittierte er nur mit einer abfälligen Handbewegung, verschwand wieder und kam mit einer uralten Minolta-Spiegelreflexkamera zurück. Die hatte er wohl von seiner Uroma. Seine Hand deutete jetzt an, daß die Kamera ganz ordentlich arbeite, aber - und nun schoß sein Zeigefinger steil in die Luft - er habe noch etwas. Und tatsächlich, beim vierten Gang in sein Zimmer förderte er eine brandneue Olympus mit einem 300mm Riesenteleobjektiv zutage. Wo hatte er die denn her? Yasuko übersetzte uns, er würde oft Bilder machen, weil Leute zum Tanzen hierherkämen. Aha! Davon hatte ich schon mal gehört, solche Tänze dienen der Reinigung der Seele und laufen unendlich langsam ab. Aber wieder daneben. Die Fotos, die uns der Mönch nun brachte, zeigten, daß die Bezeichnung "moderner Ausdruckstanz" wohl treffender ist. So langsam machten sich Zweifel in mir breit: War das hier wirklich ein echter Mönch?

In der Mitte seines kleinen Zimmers befand sich eine offene Feuerstelle. Voller Staunen versuchte ich Severin das Prinzip des rauchfreien Raumes zu erklären: "Die heiße Luft steigt hier auf, oben im Dach sind an bestimmten Punkten Löcher installiert, die einen Zug erzeugen. Der zieht dann den Rauch nach oben weg. So ähnlich funktioniert das jedenfalls in Indianer-Tipis". Aber das war kein Tipi! Der Mönch hatte unsere Blicke Richtung Dachboden bemerkt. Sein Zeigefinger schoß hervor - was wollte er uns zeigen ?- und drückte einen kleinen Knopf... Brrrrrrruuuuuuummbrummmmmbrummmmmmmmmmm.... sprang die vollautomatische Lüftungsanlage an, die den Rauch aus dem Zimmer absaugt. Das war zuviel: Mein Herz fing an zu klopfen, jetzt entdeckte ich auch die Sony-Stereoanlage neben dem Bett, Tränen stiegen in mir auf, und nur noch undeutlich nahm ich den Mönch wahr. So bekam ich auch nicht mehr mit, wie er Severin die Fotos erklärte, die auf seinem Nachttisch standen: Seine Frau, sein Auto (der Rover!), sein neues Haus, unten im Ort. Und sein Sohn, der ist jetzt Tenor an der Mailänder Scala... nie wieder Einsiedlermönche!

© Mortimer v. Plettenberg



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