Kanji
MAIASSA DENSHA NO NAKA DE (MORGENS IN DER S-BAHN)



Tokio unterscheidet sich in vieler Hinsicht vom übrigen Japan. Während auf dem Land ein Gaijin immer gleich mit vielen Ahhs und Ohhs begrüsst wird, kann man hier grölen, rumschreien, sich auf den Kopf stellen - für die Tokioter ist man Luft.

Diese Technik der "heruntergelassenen Rollos" ist wohl auch nötig, denn in Tokio herrscht 24 Stunden am Tag ein solcher Betrieb, dass alles im Chaos versinken würde, wenn sich nicht jeder selbst zurücknähme. Das funktioniert: Obwohl die Strassen von Kabuki-cho immer proppenvoll sind, hat man den Eindruck, alles würde von irgendwo aus dem Hintergrund gesteuert, keiner hupt, keiner wird ungeduldig; die Zugführer zeigen sich selbst kurz vor Abfahrt die Richtung an, vor Einfahrt in einen Bahnhof geben sie sich den Bremsbefehl, indem sie mit beiden gestreckten Händen kurz nach unten deuten. Jeder weiss hier genau, was er zu tun hat und erledigt das ohne andere zu stören und äusserst korrekt. Wären die Tokioter noch ein bisschen kleiner, ich glaube, man würde sie gar nicht mehr wahrnehmen.

Das alles gilt allerdings nicht für das bisher - im wahrsten Wortsinne - eindrücklichste Erlebnis meines Schülerdaseins: Die morgendliche U-Bahnfahrt. Es stimmt wirklich: Zu Stosszeiten (jetzt weiss ich auch, warum es so heisst) sind die Bahnen so voll, dass das Atmen schwerfällt. Und gerade, wenn man denkt, jetzt passt wirklich keine Briefmarke mehr rein, kommen noch zehn Leute und drängeln sich in die Türen. Die Tokioter haben verschieden Techniken entwickelt, die ich mittlerweile auch praktiziere, um in einen Wagen zu kommen, bei dem in Deutschland der Fahrer schon längst vor Verzweiflung ausgestiegen wäre: An einer vollen U-Bahntür dreht man sich zunächst mit dem Rücken zur Tür, achtet auf einen festen Stand, greift dann mit beiden Händen über sich an den oberen Türholm und zieht bzw. stemmt sich in die Menschenmasse hinter einem hinein. Das genügt in 90% der Fälle, um reinzukommen. Die restlichen 10% erledigt der nette uniformierte Herr von Japan Railways, indem er einen mit seinen starken, weiss behandschuhten Händen in das Wageninnere drückt, kurz bevor sich die Türen schliessen. Das verursacht natürlich gelegentlich Prellungen und Rippenbrüche (sic!). Dass die Zustände, die dann in einem solchen Wagen herrschen, noch nie bei Amnesty angeprangert wurden, kann nur verwundern. Einem Freund ist es hier sogar passiert, dass aufgrund einer Vollbremsung ALLE Passagiere plötzlich umfielen!

Vollends zum Tier mutieren die Tokioter dann, wenn es ums Aussteigen geht: als müsste jeder unbedingt der erste sein, stürzen sich alle gleichzeitig Richtung Tür. Dabei wird geschubst und geknufft, ohne Rücksicht auf Verluste. Warum, ist mir schleierhaft! Das Allerverrückteste ist aber, dass bei diesem Geschiebe, Gequetsche und Gehacke nicht ein einziges Wort gesprochen wird, geschweige denn ein - auch noch so leises - Klagen zu hören ist. Beim Aussteigen kann ich meine körpergrössenbedingte Überlegenheit natürlich voll zum Einsatz bringen, und ich bin stolz darauf, noch nie zu Boden gegangen zu sein. Ich muss allerdings auch nur etwa fünf Minuten in diesem Zustand zubringen. Neulich habe ich eine Jura-Doktorandin kennengelernt, die jeden Tag zwei Stunden hin- und zwei Stunden zurückfährt - im Stehen! Bei den hiesigen Arbeitszeiten bedeutet dass, dass sie morgens um 7.00 Uhr losfährt und abends um 12.00 Uhr nach hause kommt.

© Mortimer v. Plettenberg



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