Kanji
PURU DE (IM SCHWIMMBAD)

Diese Geschichte erschien in leicht abgeänderter Form in DIE ZEIT Nr.50/98



Trotz der überaus gesunden weil fettarmen japanischen Küche, die ich hier jeden Mittag in immer neuen Variationen geniesse (Vorspeise neulich: Quallenwürfel, mmmmh), komme ich dennoch nicht umhin, gelegentlich Sport zu treiben. Zu diesem Zweck begab ich mich kürzlich in die nächstgelegene öffentliche Badeanstalt, die hier auf einem parkartigen Unicampus liegt. Leider fehlte auf der im Eingang hängenden englischen Benutzungsanleitung der wichtigste Punkt, nämlich "Unterschiede zu Schwimmbädern im Rest der Welt". Es kam also, wie es kommen musste: Ich verlor mein Gesicht, und zwar mehrfach. Aber der Reihe nach.

Die Schwimmhalle sah auf den ersten Blick nach einem ganz normalen Standardbad aus. Mittlerweile schon gewohnheitsmässig auf möglicherweise vorhandene japanische Fussangeln achtend - man weiss nie, was man als nächstes falsch macht - inspizierte ich unauffällig das grosse Becken. Überall herrschte die typische japanische Betriebsamkeit, die ich schon vom Strassenverkehr gewöhnt bin: Alles lief ruhig, geregelt und zielstrebig ab, die Schwimmrichtungen waren vorgegeben, und niemand tollte im Wasser herum, oder rief laut durch den Raum. Alles wurde überwacht von einem Bademeister, der mit Baywatch-Dress und Flüstertüte auf einem drei Meter hohen Stuhl sass. Ich hatte den Eindruck, beim Schwimmtraining einer Profimannschaft anwesend zu sein. Also beschloss ich auch möglichst professionell aufzutreten und mit meinem - zumindest auf den ersten Bahnen - recht zügigen Kraulstil den Japanern zu zeigen, zu welchen Leistungen ein Gaijin in der Lage ist.

Ich sprang also mit Startsprung vom Kopfende des Beckens ab... "Warum war da eigentlich kein Startblock gewesen? Sollte etwa..." - "KLONK" machte mein Kopf, als er auf den Beckenboden stiess. Noch etwas benebelt tauchte ich auf, wegen des Wassers in meinen Ohren konnte ich auch noch nichts hören, aber ich sah den riesigen Mund der Bademeisterflüstertüte genau auf mich gerichtet. Dahinter fuchtelte ein Arm wild herum, und nach und nach verstand ich auch einige der gebrüllten Satzfetzen "...nai!". Das ist die Endung, mit der man imperativ aufgefordert wird, etwas zu unterlassen, und zwar nicht in der höflichen Form "...naide kudasai", sondern in der Einfachform, in diesem Fall auch als Gesichtsverlustform zu bezeichnen! Glücklicherweise waren offensichtlich ausschliesslich Tokioter in diesem Bad, denn niemand drehte den Kopf oder schaute mich direkt an. Nach ein paar entschuldigenden Verbeugungen (das Wasser war nur hüfttief), durfte ich meine Bahnen fortsetzen.

Nach zehn Minuten hatte ich mich an das flache Becken gewöhnt und zog gemütlich meine Kraulbahnen. Allerdings wunderte mich nach kurzer Zeit, dass ich niemandem mehr ausweichen musste. Freie Bahn, schon seit zwei, drei Minuten. Toll, dachte ich, bis ich schliesslich bei der nächsten Wende den wild gestikulierenden Flüstertütentypen wieder im Blickfeld hatte. Der war von seinem Stuhl heruntergestiegen und hatte mich am Beckenende abgepasst. Er rief irgendetwas mit "...te". Das ist die Endung, mit der man imperativ aufgefordert wird, etwas zu tun, und zwar nicht in der höflichen Form "...te kudasai", sondern in der Einfachform, in diesem Fall auch als Zweite-Gesichtsverlustform zu bezeichnen (zum Glück haben wir Gaijin ja mehrere Gesichter, man kann also schon mal das ein oder andere verlieren). Jetzt merkte ich auch, dass das Becken, von mir abgesehen, leer war. Alle Schwimmer sassen auf Stühlen am Rand. Ok, also raus aus dem Wasser, ein paarmal verbeugt und "Sumimasen, wakaranakatta, shitsurei shimasu, gomennasai!" gemurmelt (auf deutsch etwa: "'tschuldigung") und ab auf einen Stuhl. Die Tokioter hatten natürlich zum Glück wieder mal alle nichts bemerkt.

Was kam jetzt? Nun, zuerst einmal wurden alle Anwesenden gezählt. Höflicherweise mussten das die Badegäste nicht selber tun (was mich auch nicht gewundert hätte), sondern der Oberbademeister höchstpersönlich auf seinem Stuhl zählte durch. Und zwar mindestens viermal. Dann gab er ein etwas merkwürdiges Handzeichen, etwa so: Hand zum Kopf, dann den gestreckten Arm nach rechts, danach Hand zur Brust. Dieses Zeichen galt der Hilfsbademeisterin, die in einem kleinen Glashäusschen sass. Diese begann nun, ebenfalls zu zählen - ihr ratet es schon: richtig, viermal. So waren etwa fünf Minuten vergangen, mich überkam bereits ein leichtes Frösteln.

Dann gab die Hilfsbademeisterin ebenfalls das "Ich-habe-durchgezählt-und-es-sind-alle-da-Zeichen", erhob sich und schlenderte gemütlich zum Oberbademeister. Der blies jetzt dreimal in seine Pfeife. Dann riefen sie beide etwas - by the way: ausser ihnen war sonst keine Aufsichtsperson zu sehen, der etwas hätte zugerufen werden können - und trillerten BEIDE in ihre Pfeifen. Ich fühlte, dass der Höhepunkt der Zeremonie - es lief Minute acht - unmittelbar bevorstand. Und richtig: Der Oberbademeister erhob sich von seinem Stuhl und stieg, Zeichen gebend, herunter. Dann trillerten beide wieder, und die Hilfsbademeisterin stieg auf den Stuhl. Dann war der Wachwechsel - Changing of the Guards in London ist doch öde - beendet.

Ich wollte aufstehen und wieder ins Becken springen, sah aber, dass sich alle Anderen noch in ihrer Sitzstarre (Kopf auf der Brust, Augen geschlossen, genau wie morgens in der U-Bahn - siehe Letters Teil I) befanden und blieb deswegen sitzen. Tatsächlich schlenderte nun der Oberbademeister, in der Linken eine Pipette, in der Rechten ein pH-Meter, am Beckenrand entlang und entnahm an sechs Stellen jeweils eine Wasserprobe. Dieser Vorgang dauerte weitere vier Minuten. Obwohl die Werte offensichtlich in Ordnung waren, war das Becken noch lange nicht freigegeben, denn jetzt musste der Schwimmberichtsbogen ausgefüllt werden, und zwar ohne Hektik.

Bis hierhin war etwa eine Viertelstunde vergangen, ich schlotterte am ganzen Körper, und endlich erhob sich der Hilfsbademeister, sprach einen etwa zweiminütigen Text in sein Mikrofon (es ging wohl um die Schwimmrichtung auf den einzelnen Bahnen) und ... zählte nochmal durch. Dann zählte auch die Oberbademeisterin nochmal durch und ... ENDLICH ... hoben beide den linken Arm, trillerten, eine Fanfare ertönte, und das Becken wurde freigegeben!

Übrigens wird die Prozedur alle zwei Stunden wiederholt. Aus Sicherheitsgründen, wie ich erfuhr.

© Mortimer v. Plettenberg



< < < LETZTER | INHALT | NÄCHSTER > > >